Geschichte der Mathematik an der RWTH Aachen

 

MATHEMATIK

von Hans Hermann Bock

aus "Wissenschaft zwischen technischer und gesellschaftlicher Herausforderung: die Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen 1970-1995" / [Hrsg. Klaus Habetha, Aachen 1995]

Im Rahmen der Wissenschaften verkörpert die Mathematik traditionell das Paradigma der logisch-exakten Denk- und Deduktionsweise. Und mathematische Gleichungen und Theorien bilden nach wie vor die unentbehrliche Grundlage naturwissenschaftlicher Forschung, etwa zur Beschreibung, Analyse und Prognose physikalischer und chemischer Prozesse. Diese klassische Rolle der Mathematik ist in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts in vielerlei Hinsicht erweitert und durch zahlreiche neue Aufgabenfelder bereichert worden: Nicht nur, daß sich die mathematische Modellierung von Phänomenen auch außerhalb der Naturwissenschaften als überaus nützlich oder gar notwendig erwies und entsprechende Mathematisierungstendenzen zum Beispiel in den Wirtschaftswissenschaften, der Linguistik und der Psychologie auslöste; sondern es hat auch die im Bereich von Technik, Industrie und Medizin beobachtbare Entwicklung neuer Produktionsformen, Materialkomponenten und Diagnose-techniken zahlreiche neuartige mathematische Probleme mit ausgeprägtem Anwendungscharakter geschaffen, deren Lösung u.a. die Bereitstellung superschneller Algorithmen zur Bewältigung immenser Datenmengen erfordert. Erwähnt sei hier etwa die Entwicklung und Optimierung von Mikrochips und Leiterplatten in der Elektronik, die Dimensionierung von Halbleiterschichten und deren Einsatz in der Lasertechnik, die statische Berechnung komplexer Bauwerke bei sparsamstem Materialeinsatz, die aerodynamische Planung und Simulation von Großflugzeugen ("digitalerWindkanal"), die großräumige und langfristige Prognose von Wetter- und Flugbedingungen, die Echtzeit-Verarbeitung dreidimensionaler Bilder (z. B. für Flugsimulation, Operationschirurgie
und Kernspin-Tomographie), die Mustererkennung zur Personen- und Sprachidentifizierung, kryptographische Methoden zur Informationsverschlüsselung und schließlich die Auslegung und Optimierung von Datenflüssen in Rechnern und Funknetzen (z. B. zur Mobilkommunikation).

Die Fachgruppe Mathematik der RWTH Aachen hat sich in den vergangenen 25 Jahren den aus dieser Entwicklung erwachsenen wissenschaftlichen Verpflichtungen und Herausforderungen gestellt und in Forschung und Lehre zahlreiche neue Schwerpunkte gesetzt. Das Umfeld der technischen Hochschule und der tägliche Kontakt mit anderen Fachgebieten begünstigte hier eine fruchtbare Wechselwirkung zwischen mathematischer Theorie und praktischer Anwendung.

Was die Lehre anbetrifft, hat die Mathematik an einer Technischen Hochschule ja eine zweifache Aufgabenstellung wahrzunehmen: einerseits die Ausbildung von Berufsmathematikern, andererseits die umfangreichen Veranstaltungen im Servicebereich für Ingenieure und Anwender. Die speziellen Zielsetzungen der Technischen Hochschule, die universelle Anwendbarkeit mathematischer Vorgehensweisen und die zunehmende Computerisierung von Alltag und Technik bringen es mit sich, daß nahezu jeder Studierende der technischen, natur- und wirtschaftswissenschaftlichen Fächer eine Grundausbildung in Mathematik im Umfang von ca. drei bis vier Semestern durchlaufen muß. Da im Servicebereich vor allem solide Grundkenntnisse mit Praxisbezug vermittelt werden sollen, während für Mathematikstudierende eine umfassende mathematische Fundierung unter Einbeziehung klassischer wie neuester Forschungsrichtungen erforderlich ist, ergibt sich ein recht differenziertes Anforderungsprofil an die Lehre.

In der Berichtsperiode 1970 bis 1994 war die Fachgruppe Mathematik in dieser Hinsicht sehr intensiv tätig. Dabei wurden Umfeld und Schwerpunkte im Lauf der Zeit immer wieder verändert und angepaßt, etwa bei der Einführung einer eigenen Prüfungsordnung "Mathematik" im Jahr 1971 (die vorige stammte von 1942), durch den enormen Anstieg der Zahl der Studierenden in den siebziger und achtziger Jahren, bei der Auflösung der Aachener Pädagogischen Hochschule und der dortigen Lehramtsausbildung, durch die Einbeziehung neuer Fachgebiete (zum Beispiel bei der Einführung des Vollstudiums in "Betriebswirtschaftslehre" im Jahr 1980), durch die Entwicklung der
Computertechnik und schließlich bei der Einrichtung des Diplomstudiengangs "Informatik" im Wintersemester 1972/73.

Derzeit erfaßt der Servicebereich die mathematische Grundausbildung in den Ingenieurfächern Bauingenieurwesen und Brennstofftechnik, Elektrotechnik und Maschinenbau, Bergbau und Hüttenwesen sowie Architektur; hinzu kommen spezielle Veranstaltungen für Physiker und Chemiker, für die Mechanik, die Informatik und die Wirtschaftswissenschaften. Der Anstieg der Gesamtzahl der Studierenden der RWTH (1970: 13162, 1993: 36942, also Erhöhung auf 280%) machte sich in diesen Veranstaltungen besonders bemerkbar und barg die Gefahr einer Vermassung: Bereits zu Beginn der siebziger Jahre wurde zum Beispiel der Kurs" Höhere Mathematik I" von ca. 1700 Ingenieuranfängern und Physikern besucht; Mitte der siebziger Jahre waren es bereits 2000 (in zwei Parallelkursen) und Anfang der neunziger Jahre sogar 2 500-3 000 (insgesamt für verschiedene Studiengänge). Entsprechend verhielt es sich bei Vorlesungen wie "Darstellende Geometrie" mit ca. 850, "Numerische Mathematik" mit ca. 1500, "Wirtschaftsmathematik " und "Statistik" mit zeitweise 400-700 Hörern. Solche Zahlen stellten, auch wegen des Mangels an großen Hörsälen, an Lehrende wie Lernende hohe Anforderungen bzgl. Disziplin, Organisations- und Kooperationsfähigkeit, wobei gelegentlich auch noch die ministerielle Streichung von MitarbeitersteIlen zu tragen war.

Der Diplomstudiengang Mathematik wurde zwischen 1970 bis 1993 insgesamt von ca. 3 540 Studierenden eingeschlagen. Die jährlichen Anfängerzahlen (in 1971, 1978, 1983, 1990, 1993 waren es 200, 98, 184, 264, 203) fielen nach Einrichtung des Studienfachs Informatik (1972/73) für kurze Zeit ab, doch erreichten sie seit 1983 wiederum das alte Niveau und zeigen langfristig wachsenden Trend. Hinzu kommen noch die Studierenden des Lehramts (Anfänger 1971: 125, 1993: 102), teils an berufsbildenden Schulen. Insgesamt sind derzeit (WS 1993/94) 907 Studierende für Mathematik eingeschrieben.

Bis 1971 konnte an der RWTH das Fachstudium Mathematik nur im Rahmen einer kombinierten Prüfungsordnung für Mathematik und Physik oder aber im Rahmen der Lehramtsausbildung durchgeführt werden. Gegenüber
der Situation von 1963 mit gerade vier Lehrstühlen (Mathematik, Reine und Angewandte Mathematik, Geometrie und Praktische Mathematik, Statistik und Wirtschaftsmathematik) standen 1972 immerhin zehn Professuren (Lehrstühle) und acht Wissenschaftliche Ratsstellen/Professuren zur Verfügung, die nunmehr eine deutliche Differenzierung mathematischer Spezialgebiete erkennen ließen.

Die Etablierung einer eigenen Prüfungsordnung "Mathematik" im Jahr 1971 entsprach einerseits der generellen Tendenz zur Mathematisierung in neuen Wissenschafts-, Anwendungs- und Sachbereichen und dem dadurch gestiegenen Bedarf an Diplommathematikern, andererseits aber auch der Anpassung des Fächerkanons an das zugehörige, breitgefächerte Berufsbild. Angesichts der bereits erwähnten Erhöhung der Zahl der Studierenden auf 280%, aber auch um aktuellste Forschungsrichtungen einzubeziehen, wurde bis 1993 die Anzahl der Lehrstühle (teils durch Teilung) auf 13, die der Professuren (teils durch Umwidmung anderer Stellen) von insgesamt 18 auf 29 erhöht, wobei allerdings die Anzahl der Mitarbeiter, Assistenten und Akademischen Räte nur um 12% von 58 (1972) auf 65 (1993) zunahm. Schließlich konnte im Jahr 1993 ein Lehrstuhl für Hochleistungsrechnen eingerichtet werden, der für die numerische Mathematik wie auch die Kooperation mit den Ingenieuren neue Maßstäbe setzen wird, und auch die von 1987 bis 1992 gestrichene Logik-Professur konnte wiedergewonnen werden. Leider sind die Mathematiker derzeit dezentral in sieben verschiedenen Gebäuden der RWTH untergebracht.

Insgesamt bietet die Mathematik an der RWTH für Studium und Forschung ein großes Spektrum von Möglichkeiten und Schwerpunkten. Das gilt zunächst für die klassischen Gebiete wie Analysis, Algebra, Approximationstheorie, Geometrie und Differentialgeometrie, Funktionentheorie und Funktionalanalysis, Logik und Topologie, es gilt aber in besonderem Maße auch für viele neuere Themen oder Disziplinen: Numerische Mathematik und Optimierungsmethoden, dynamische Systeme und Computeralgebra, Spiel- und Graphentheorie, Wahrscheinlichkeitstheorie und mathematische Statistik (Stochastik), Simulationsmethoden und Unternehmensforschung (bis 1979 existierte hierfür ein eigener Lehrstuhl). Hinzu kommen informatiknahe Themen wie Algorithmen-, Komplexitäts-, Informations- oder Netzwerktheorie. Die Möglichkeit, das Mathematikstudium mit einem Nebenfach wie Wirtschaftswissenschaft, Informatik oder Medizin zu verbinden, erweist sich im Hinblick auf Praxisbezug und Berufschancen als äußerst attraktiv. Fortgeschrittene Mathematiker können als Doktoranden im Rahmen des 1992 eingerichteten Graduierten-kollegs "Analyse und Konstruktion in der Mathematik" ihre Ausbildung in Kooperation mit Ingenieuren und Physikern vertiefen und mathematische Probleme bearbeiten.

Bereits recht früh wurden auch computerorientierte Veranstaltungen angeboten, etwa zur Programmierung, zum Rechnerbetrieb oder Compilerentwurf, und zwar in enger Zusammenarbeit mit dem 1958 gegründeten Rechenzentrum der RWTH. Natürlich ist die ursprüngliche Orientierung am Großrechner inzwischen längst durch eine Ausbildung mit PCs, CIP-Pools, Workstations und vernetzten Rechnern abgelöst, und es sind verschiedene diesbezügliche Aufgaben an die neugegründete Fachgruppe "Informatik" übergegangen.

Was die lokalen Schwerpunkte mathematischer Forschung anbetrifft, würde es zu weit führen, hier detailliert auf einzelne Probleme oder Ergebnisse einzugehen, zumal auch die spektakulärsten mathematischen Entdeckungen in der Öffentlichkeit zunächst wenig Resonanz erzeugen und erst nach Einbindung in zum Beispiel technische oder medizinische Anwendungen im nachhinein und anonym gewürdigt werden. Stellvertretend seien jedoch einige zentrale, durch Aachener Forschergruppen behandelte Themen nebst zugehörigen Anwendungsaspekten beschrieben:

ANALYSIS

Sie bildet die klassische Grundlage mathematischer Überlegungen und beschäftigt sich u.a. mit den Eigenschaften von Funktionen und der (u.a. iterativen) Lösung von Gleichungen. Die Approximation von komplizierten Funktionen
als Superposition von einfacheren (und technisch besser realisierbaren) Funktionen ist ein Kernproblem der Approximationstheorie und der Fourieranalysis, dessen adäquate Lösung viele Anwendungen in der Nachrichtentechnik und der Signaltheorie impliziert. Ausgedehnte Untersuchungen betreffen die Theorie spezieller Funktionen und zugehöriger Orthogonalentwicklungen, die z. B. im Rahmen der Physik und Geodäsie eine wichtige Rolle spielen, oder gewisse Integraltransformationen, wie sie bei der Computertomographie in der medizinischen Diagnostik auftreten. Zahlreiche weitere Arbeiten betreffen die Funktionalanalysis, die nichtlineare und komplexe Analysis (speziell mit hyperkomplexen Variablen) sowie verallgemeinerte Cauchy-Riemann-Systeme.

DIFFERENTIALGLEICHUNGEN

Der zeitliche Verlauf von physikalischen und chemischen Prozessen wird typischerweise durch gewöhnliche oder partielle Differentialgleichungen beschrieben, wie sie z. B. aus der Mechanik, der Thermodynamik, der Festkörperphysik oder der Quantenelektrodynamik bekannt sind. Auch demographische Veränderungen, physiologische Vorgänge und epidemiologische Entwicklungen folgen diesen Gesetzen. Die strukturelle Untersuchung von Differentialgleichungen und zugehöriger Eigenwertprobleme (die z. B. Belastungsgrenzen
oder Resonanzphänomene kennzeichnen) sowie die Berechnung ihrer Lösungen haben deshalb - neben ihrem mathematischen Erkenntniswert - ganz direkte Auswirkungen auf die zugehörigen angewandten Disziplinen und technischen Realisierungen, sei es bei Verbrennungsmotoren oder Stabilitätsberechnungen, in der Aerodynamik oder beim Schiffbau, in der Lasertechnik oder der Elektronik, bei der Prozeßsteuerung wie in der Robotik, bei Entwurf und Kontrolle von Raumgleitern ebenso wie beim Transistorbau, bei Wetter und Klimaforschung wie der Astrophysik. Hier haben die Aachener Mathematiker in Kooperation mit Physikern und Ingenieuren eine intensive Forschungstätigkeit entfaltet, welche sich z. B. mit Transportgleichungen (aus der Stellardynamik bekannt), den Navier-Stokes-Gleichungen (im Bereich von Strömungsmechanik und Meteorologie verbreitet), mit Maxwell-Gleichungen (zur Beschreibung elektromagnetischer Schwingungen) oder mit hyperbolischen Gleichungen (z.B. bei der Aerodynamik im Überschallbereich) befaßt. Zahlreiche weitere Arbeiten betreffen z. B. Schrödinger- und Dirac-Operatoren, die Spektral- und Streutheorie (Grundlage der Quantenmechanik) sowie verschiedene nichtlineare partielle Differentialgleichungen.

DYNAMISCHE SYSTEME

Hier geht es speziell um nichtlineare Differentialgleichungen und Iterationsprozesse, die das Zeitverhalten von chemischen, technischen, biologischen oder sozialen Prozessen beschreiben und die insbesondere im Hinblick auf ihr Konvergenz-, Oszillations- und Stabilitätsverhalten interessant sind. Weil solche Prozesse einerseits einem stabilen Endzustand zustreben ("Lorenz-Attraktor"), andererseits aber auch in unvorhersagbares, "chaotisches" Verhalten ausarten können, werden sie seit längerem intensiv und - wie die zahlreichen wissenschaftlichen oder populärwissenschaftlichen Bücher zur "Chaostheorie" zeigen - durchaus publikumswirksam untersucht. Auch sind die seit den zwanziger Jahren bekannten, das Grenzverhalten beschreibenden Juliamengen und "Fraktale" auch dem Laien in graphisch vorzüglich gestalteten Büchern und PC-Programmen inzwischen bekanntgemacht worden. Die zugehörige mathematische Theorie ist ein zentrales Forschungsthema in Aachen, wobei man sich insbe-sondere mit komplexen Iterationsprozessen, mit Newtonschen Flüssen (aus der Diskretisierung von Differentialgleichungen entstanden, zwecks Bestimmung von Nullstellen und zur globalen Optimierung), mit Riccatischen Matrix-Differentialgleichungen und Bewegungsgleichungen für Teilchensysteme befaßt und verschiedene Themen zur Stabilitäts- und Bifurkationstheorie behandelt.

ALGEBRA

Auf dem Gebiet der Algebra bildet die Gruppentheorie einen lokalen Forschungsschwerpunkt in Aachen. Gruppen sind Mengen von Objekten, zwischen denen paarweise Verknüpfungen (Operationen) definiert sind. Klassische Beispiele sind die ganzen Zahlen (mit der Addition), die Drehungen im dreidimensionalen Raum (mit Hintereinanderausführung) und die Symmetriegruppen in der Kristallographie. Neuere Beispiele betreffen die Elementarteilchenphysik und die Quantentheorie, die weitgehend auf der Gruppen- und Eigenwerttheorie (für Differentialgleichungen) basiert. Aktuelle Themen sind hier die Darstellungstheorie von Gruppen und Ordnungen, die Theorie von Lie-Gruppen und Lie-Algebren sowie die mathematische Kristallographie. Neue Möglichkeiten für Theorie und Praxis ergaben sich durch die Entwicklung und Implementation algorithmischer Methoden auf dem Computer, die z. B. das Rechnen mit Gruppen und Charakteren erlauben. Diese Arbeiten initiierten eine konstruktive Richtung innerhalb der abstrakten Algebra und führten zur Erstellung verschiedener, allgemein zugänglicher Softwaresysteme. Im Zusammenhang damit stehen die Lehrveranstaltungen zur Computeralgebra, wo spezielle Formelmanipulationssysteme eine automatische, explizite Auflösung von Gleichungssystemen oder die formelmäßige Darstellung von Integralen ermöglichen.

NUMERISCHE MATHEMATIK

Eine formelmäßige Lösung von (Differential-) Gleichungen, wie sie z. B. in der Statik, der Strömungsdynamik, der Elektronik oder beim Vielkörperproblem auftreten, ist wegen der i.a. komplizierten Randbedingungen generell nicht möglich. Deshalb ist die appoximative numerische Bestimmung entsprechender Lösungen für die Anwendungen von hoher Dringlichkeit und Bedeutung. Entsprechende Methoden bilden den Forschungsschwerpunkt der beiden Aachener Numerik-Lehrstühle, wo verschiedene Rand- und Anfangswertprobleme bearbeitet und die numerische Lösung mittels der Finite-Element-Methode, den Multi-Grid-Verfahren und den sog. Wavelets gefunden wird. Besonderes Interesse gilt auch der rechnergestützten Geometrie. In diesem Bereich werden mathematische Methoden für eine schnelle graphische Repräsentation, Manipulation und Animation von Kurven, Flächen und Objekten auf dem Bildschirm entwickelt und in intelligente CAD-Systeme umgesetzt. Im Vordergrund stehen dabei ModelIierungsaspekte, Freiformflächen und Flächenschnitte, und es wird intensiv an der Konzipierung entsprechender paralleler Algorithmen gearbeitet.

OPTIMIERUNGSMETHODEN

Die Optimierung von Prozessen, die Minimierung von Kosten und die Maximierung von Effizienzkriterien sind ubiquitäre Forderungen in Technik und Wirtschaft. In der Physik spielen Zustände maximaler Entropie oder minimaler Energie eine zentrale Rolle hinsichtlich Stabilität und Konvergenz, und die Optimierung von (Atom-)Gitterstrukturen stellt z. B. ein wichtiges Problem der Halbleitertechnik dar. Mathematisch handelt es sich in allen Fällen um die Optimierung von Funktionen oder Funktionalen hinsichtlich reeller Zahlen, Vektoren, Matrizen und Funktionen oder auch hinsichtlich diskreter und kombinatorischer Strukturen. In Aachen beschäftigt man sich z.B. mit linearer, nichtlinearer, diskreter und semi-infiniter Optimierung sowie mit parameterabhängigen Optimierungsproblemen; man untersucht deren Strukturstabilität, die Charakterisierung von und den Übergang zwischen verschiedenen stabilen Systemen, die auftretenden Singularitäten etc. Trotz des Einsatzes von modernen Computern und Parallelrechnern stellt die in der Praxis häufig große Zahl von Variablen oder Nebenbedingungen eine ernste Schwierigkeit dar und erfordert, gerade auch bei kombinatorischen Problemen, die Erarbeitung spezieller schneller (VLSI) Algorithmen.

WAHRSCHEINLICHKEITSTHEORIE UND STATISTIK (STOCHASTIK)

Die meisten der in Technik, Natur, Wirtschaft und Gesellschaft ablaufenden Vorgänge sind in mehr oder weniger großem Maße vom Zufall beeinflußt, sei es aus prinzipiellen Gründen (Brownsche Bewegung, Unschärferelationen, biologische Variabilität und Mutation), sei es als Folge unkontrollierbarer individueller Entschlüsse (Kaufentscheidungen zahlreicher Konsumenten, Wahlverhalten) oder auch als Bestandteil von Datenerhebungs-verfahren (Zufallsstichproben). Die Modellierung, Analyse und Vorhersage solch zufallsabhängiger Prozesse erfolgt im Rahmen von Wahrscheinlichkeitsrechnung, mathematischer Statistik und explorativer Datenanalyse. Schwerpunkte betreffen die maßtheoretischen Grundlagen sowie die Entwicklung praktikabler oder gar optimaler statistischer Schätz- und Testverfahren. Die Aachener Forschungsaktivitäten befassen sich hier vor allem mit Strategien zur optimalen Versuchsplanung, mit der Statistik von Extremwerten (maximaler Wasserstand, Ausreißerdaten), mit der Theorie linearer Modelle (z. B. Varianzanalyse und multivariate Regression) und mit zugehörigen Matrixoptimierungsmethoden. Zahlreiche Arbeiten widmen sich der Analyse multivariater Daten, den Methoden zur Klassifikation und Clusteranalyse (nebst Anwendungen in der Mustererkennung) und der niedrigdimensionalen Repräsentation hochdimensionaler Daten. Direkten Anwendungsbezug zeigen auch die Aktivitäten im Bereich der Versicherungsmathematik und Risikotheorie, der Zuverlässigkeitstheorie und der statistischen Qualitätssicherung. Eine eigene Forschungsrichtung widmet sich den probabilistischen Aspekten in Informatik und Kommunikationstheorie, etwa bei der Modellierung, Berechnung und Optimierung von Datennetzen und Funkkanälen, insbesondere beim Mobilfunk und unter knappen Frequenzreserven.

INFORMATIK- UND COMPUTERRELEVANTE THEMEN

Im Grenzbereich zwischen Mathematik und Informatik liegt schließlich eine Reihe weiterer Forschungsschwerpunkte, die einerseits mit diskreten Strukturen, andererseits mit Optimierungs- und algorithmischen Fragen zu tun haben. Zentrale Gebiete sind hier die Graphentheorie, die kombinatorische Abzähltheorie, die Kryptologie (auch unter Berücksichtigung der Anforderungen des Datenschutzes), die Computergraphik und die Bildverarbeitung (auch in Zusammenarbeit mit Industrie und Medizin).

AUSSENKONTAKTE IM IN- UND AUSLAND

Die obige Aufstellung zeigt, daß die Mathematik an der RWTH durch eine große inhaltliche Vielfalt und durch eine enge Kooperation mit anderen Fachgebieten und Wissensbereichen geprägt ist. Die resultierende Wechselwirkung zwischen Theorie und Praxis erweist sich nicht nur für die beteiligten Wissenschaftler als fruchtbar und innovativ: Auch für die Studenten bedeutet sie einen beachtlichen Vorteil bei ihrer beruflichen Karriere, zumal Aachen derzeit die landesweit kürzeste mittlere Studiendauer in Mathematik aufweist.

Daß die Aachener Mathematiker auch im nationalen und internationalen Rahmen eine hervorragende Stellung einnehmen, wird einerseits daran deutlich, daß viele von ihnen als (Haupt-)Vortragende oder (Mit-)Organisatoren
bei internationalen Konferenzen oder Sommerschulen tätig sind. Es äußert sich andererseits aber auch in den Kontakten zu auswärtigen Universitäten und Forschungsinstituten bzw. Einladungen dorthin. Die im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft angebotenen Kooperations- und Austauschprogramme werden intensiv genutzt, etwa durch Projekt-Netzwerke über Algebra und Zahlentheorie ("Galois Network", "Gruppen- und Zahlentheorie", "Diskrete Geometrie") oder im Projekt "Theoretische Physik und mathematische Modelle", wobei als Partner u.a. Institute aus Gent, Paris, Montpellier, Amiens, London, Rom und Göteborg beteiligt sind. Unter dem EG-Projekt PROCOPE bestehen Verbindungen zur Pariser Ecole Nationale Supérieure de Cachan mit dem Thema "Computeralgebra in der Regelungstechnik". Im EG-Programm "Human Capital and Mobility" hat Aachen die Leitung des Projekts "Computational Group Theory" inne, an dem zwölf Universitäten aus aller Welt beteiligt
sind (z. B. Canberra, MIT/Cambridge, Montréal etc.). Schließlich besteht seit 1988 mit der Fachgruppe Mathematik der Rijksuniversiteit Limburg in Maastricht ein regelmäßiger Austausch von Studierenden, Dozenten und Professoren (mit einem jährlichen Fachkolloquium), weitere Austauschprogramme existieren z. B. mit Schweden und Ungarn. Im nationalen Bereich sind Aachener Mathematiker an verschiedenen DFG-Projekten beteiligt.

Die Kontakte nach außen werden durch eine Reihe mathematischer Tagungen unterstrichen, die in den letzten Jahren an der RWTH ausgerichtet werden konnten: etwa die Jahrestagung 1977 der Gesellschaft für Mathematik, Ökonomie und Operations Research (GMÖOR), die Jahrestagung 1978 der Deutschen Mathematiker-Vereinigung (DMV), die First Conference of the International Federation of Classification Societies (IFCS) über "Classification
and Related Methods of Data Analysis" (1987) und die gemeinsam mit der Mechanik veranstalteten internationalen Tagungen über" Hyperbolic Problems" (1988) und "Hypersonics" (1990; mit direktem Bezug zur Entwicklung von Raumgleitern). Die Kolloquiumsreihe "Mathematische Methoden in der Signaltheorie" führt alle zwei Jahre zahlreiche Mathematiker und Nachrichtentechniker an der RWTH zusammen. Von hohem kulturellem wie mathematik-historischem Interesse waren schließlich das" International Christoffel Symposium" (1979), bei dem die Werke und die Bedeutung des aus Monschau stammenden Mathematikers Elwin Bruno Christoffel (1829-1900) gewürdigt wurden, die "Alkuin-Tagung" (1991), die sich mit dem Wirken und dem wissenschaftlichen Umfeld Alkuins von York (735-804), eines Hofgelehrten von Karl dem Großen, beschäftigte, und das "Colloquium Carolus Magnus on Arithmetic and Geometry" im März 1995.